Birobidschan

14. November 2024

Birobidschan: Ein Ort im fernen Osten Russlands circa acht Flugstunden von Moskau, aber nur eineinhalb Autostunden von der chinesischen Grenze entfernt. Ein Ort mit heißen Sommern und eiskalten Wintern, sehr vielen Mücken und harten Lebensbedingungen. Birobidschan ist die Hauptstadt des jüdischen Autonomen Oblast, also eines autonomen jüdischen Verwaltungsbezirks, der von Stalin in den 1930er Jahren gegründet wurde, um den fernen Osten des Landes zu besiedeln und landwirtschaftlich zu nutzen, aber vor allem auch um einen aus seiner Sicht missliebigen Bevölkerungsteil „loszuwerden“. Heute ist es der einzige Ort auf der Welt, an dem Jiddisch neben Russisch die Amtssprache ist, obwohl nur noch sehr wenige Jüdinnen und Juden dort leben.

 

Birobidschan ist auch der Name des Debütromans von Herrn Tomer Dotan-Dreyfus, den wir bei uns begrüßen durften. 1987 in Haifa, einer Hafenstadt im Norden Israels geboren, lebt er heute seit über zehn Jahren in Berlin und arbeitet als Autor, Lyriker und Übersetzter. Er schreibt sowohl auf Hebräisch als auch auf Deutsch und 2023 erschien sein Debütroman „Birobidschan“, den er auf Deutsch geschrieben hat und der sogar für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert wurde.

 

„Diese Welt von Birobidschan - nicht das Birobidschan der Welt - will ans Licht.“ (Zitat)

 

In seinem Roman,  aus dem wir etwas hören durften, geht es - wie der Name schon verrät - um Birobidschan, aber eben nicht um den historischen Ort, das „Birobidschan der Welt“, sondern ein Erzähler, der offenbar sehr müde ist und keine Zeit hat, „Fragen zu beantworten“, erzählt von einem anderen, fiktiven Birobidschan. Vermittelt wird dabei eine Mischung aus jiddischer Kultur, sozialistischen Träumen, magischen Ereignissen und post-sowjetischer Lebensrealität.

 

Herr Dotan-Dreyfus las einzelne Kapitel und Buchstellen vor und beantwortete zwischendurch auf eine sehr offene und sympathische Weise unsere Fragen. Wir durften mehr über seine Arbeit als Autor, die Entstehungsgeschichte seines Romans und sein Gedanken „hinter Birobidschan“ erfahren. Birobidschan ist eindeutig kein „normales“ Buch. Herr Dotan-Dreyfus bricht in seinem Buch mit den herkömmlichen Regeln der Literatur: Er folgt keiner genauen Zeitlinie, in den hinteren Kapiteln tauchen neue Figuren auf, ohne vorgestellt zu werden, wohingegen teilweise andere einfach verschwinden. Auch der Erzähler ist anders, zum Beispiel wenn er feststellt, dass etwas doch nicht in die Geschichte passt oder er Lust auf etwas anderes hat und die Erzählung einfach ändert.

Klar geworden ist, dass das Buch von Herrn Dotan-Dreyfus eindeutig lesenswert ist, vor allem da man feststellen konnte, mit wie viel Leidenschaft es von ihm geschrieben wurde. Andererseits ist dieser moderne Erzählstil vielleicht nicht jedermanns Sache, aber wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen, wird man definitiv nicht enttäuscht. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Lesung wirklich sehr gelungen war und Herr Dotan-Dreyfus uns mit seiner sympathischen Art und Weise überzeugt hat.   

 

Luisa Fritsch (Q12)